„Mein Mann ist seit einiger Zeit erkrankt. Zum ersten Mal erlebe ich ihn schwach, und er gibt mir nicht mehr die Sicherheit, die ich sonst von ihm gewohnt bin“, erzählt Marianne.
„Was löst das in dir aus?“ frage ich sie.
„Es verunsichert mich und macht mir Angst. Gleichzeitig mache ich mir natürlich Sorgen“, antwortet sie.
„Meinst du, dass du ihm damit hilfst?“ möchte ich wissen.
„Ich glaube nicht“, sagt Marianne zögerlich.
„Was ist jetzt für dich dran? Die Frage ist: Was ist deine Angelegenheit? Was liegt in deinem Spielraum oder Spielfeld?“
„Ich habe keine Ahnung …“ gibt sie ehrlich zu.
Es war einmal ein Mann, der Klarheit suchte. Er durchquerte Städte, Dörfer, Wälder und Berge, doch niemand wusste, wo sie zu finden war. Eines Tages traf er einen alten Weisen, der sprach:
„Die Klarheit findest du in einem tiefen Brunnen.“
Der Mann fand den Brunnen, blickte hinab und rief: „Klarheit, wo bist du?“ Im stillen Wasser sah er sein Spiegelbild, umrahmt von den Farben des Himmels. Die Klarheit war wunderschön, aber auch nackt und ungeschminkt. Er erschrak, denn er hatte nicht erwartet, dass sie so unverhüllt sein würde.
„Warum schreckt dich mein Anblick?“ fragte die Klarheit.
„Du bist so direkt, so unverblümt“, antwortete der Mann. „Ich hatte mir etwas anderes vorgestellt, leichter zu ertragen.“
Da lächelte die Klarheit: „Viele fürchten mich, weil ich nichts verstecke. Doch nur wer bereit ist, mich anzunehmen, wird wirklich befreit.“
Die Geschichte erinnert mich daran, dass es Mut erfordert, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. Oft fürchten wir uns vor dieser Klarheit, weil sie unbequem oder herausfordernd sein kann.
Doch meine Erfahrung zeigt, dass Klarheit uns immer weiterbringt. Hinter dem Schmerz der Erkenntnis wartet Erleichterung und Befreiung. Und oftmals höre ich, wie Menschen sagen: „Klarheit schenkt mir eine neue Pespektive.“
Dass Mariannes Mann krank ist, gehört zu der `Realität` oder dem `Leben`. Es ist eine Tatsache, die sie nicht verändern kann.
Die Erkrankung gehört zu ihm. Marianne kann ihm diese Last nicht abnehmen. Und es wird auch nicht leichter, wenn sie denkt: „Du solltest gesund sein und mir Sicherheit geben.“ Diese Gedanken machen die Situation für sie und ihn schwerer, darin sind wir uns einig.
Marianne kann ihrem Mann am meisten helfen, wenn sie sich auch um sich selbst kümmert – um ihre Unsicherheit, ihre Angst und ihre Sorgen. Indem sie ihre Gefühle klar benennt und sich erlaubt, diese anzunehmen und zu fühlen, kann sie Heilung für sich selbst finden. Je mehr sie ihre Angst bewältigt, desto weniger dramatisch fühlt sich seine Krankheit für sie an und desto mehr Stabilität kann sie ihrem Mann geben. Das liegt in ihrem eigenen Spielraum.
Natürlich gibt es auch die praktische Ebene: Marianne kann ihrem Mann im Alltag konkret helfen, wo er Unterstützung benötigt. Doch das ist eine andere Ebene.